Artikel aus KONTEXT #07
08.11.2022
Wie kann Inklusion erreicht werden?
Seit 17 Jahren führt der mit dem Swiss Diversity Swisscom Entrepreneurship Award ausgezeichnete Jonas Staub Inklusionsprojekte im Bereich Freizeit, Arbeit und Wohnen. In diesem Gespräch erzählt er, was sich am System ändern müsste, damit unsere Gesellschaft den Inklusionsgedanken besser verwirklichen könnte.
Mit unermüdlichem Elan für Lösungen sozialer Probleme
Meine ursprüngliche Motivation ist ein Fehler, den ich im System wahrnehme. Menschen mit ähnlichen Beeinträchtigungen, sozialen Problemen und Erfahrungen werden systematisch unter ihresgleichen gefördert. Das stellt jedoch kein Abbild unserer diversen Gesellschaft dar! Durch diese Entmischung ist es nur begrenzt möglich, voneinander zu lernen. Fällt die Sonderbehandlung und -förderung für die einzelnen Gruppen weg, fühlen sich die Betroffenen oftmals nicht gut genug auf die Gesellschaft vorbereitet. In meiner Funktion als Sozialpädagoge habe ich viele Jahre in entsprechenden Institutionen und mehrheitlich mit jüngeren Menschen gearbeitet.
Wenn ich sie fünf Jahre später wieder traf und fragte, wo sie arbeiten, wie sie wohnen und mit welchen Freunden sie verkehren, war das Resultat, dass sie noch immer am gleichen Punkt standen. Gegen diesen Systemfehler wollte ich ankämpfen, und so wurde mein Inklusionsgedanke geboren.
Meine heutige Motivation ist nach wie vor der Umgang mit unterschiedlichsten Menschen, der die Arbeit spannender und umfassender macht. Inklusion fördert das Lernen voneinander. Ich war schon immer überzeugt, dass es nachhaltiger ist, wenn sich Menschen untereinander stützen und helfen müssen. Die Vielfalt an Menschen erfordert vielfältige Konzepte – diese Herausforderung gefällt mir.
Dank der inklusiven Art des Arbeitens erhält man zudem direktere Feedbacks. Mit der Inklusion ist die Poleposition der pädagogisch-agogisch tätigen Fachperson hinfällig. Sonst weiss diese immer alles besser. Sie ist zuständig für die Förderplanung und Laufbahnberatung, sie bestimmt, wo die Leute wohnen, was sie arbeiten, was sie können und was sie nicht können. Die Fachpersonen sollten sich etwas zurücknehmen. Ihr Beruf ist dazu da, die Menschen zu unterstützen. Das Wort sagt es selbst, «unter-stützen», also ich bin eigentlich unten und stütze jemanden oben. Sonst zerre ich jemanden hinter mir her und sage, wo es langgeht. In der Praxis ist das oft so, teils einfach weil dies nie reflektiert wurde. Die Lösungen müssen gemeinsam gesucht werden, den Lead soll jedoch die betroffene Person haben.
Als wir nach geeigneten inklusiven Arbeitsprojekten suchten, ist die Wahl aus zwei Gründen auf die Gastronomie gefallen. Erstens wollten wir ein niederschwelliges und sichtbares Angebot, das unterschiedliche Klient*innen anspricht. So sind wir auf die Gastronomie gekommen, die allgemein beliebt ist und vielfältige Arbeitsbereiche bietet. Indem wir unsere Arbeit der Gesellschaft zugänglich machen, regen wir Diskussionen an, die im besten Fall zu Nachahmungseffekten und zur Bewusstseinsbildung führen. Bewusstseinsbildung ist unter anderem ein Anliegen der UNO-Behindertenrechtskonvention dessen wir uns seriös annehmen wollten.
Zweitens suchten wir nach einem Business, das nicht einfach die übliche Arbeit für Menschen mit Beeinträchtigungen bietet, wie beispielsweise Logistik, Verpackungsservice, Transport, Umzugshilfe und Reinigung. Wir wählten bewusst ein schwieriges Feld, damit wir beweisen können, dass Inklusion ein Vorteil ist. Inklusive Arbeit macht mehr Spass, fordert heraus, ist nachhaltiger, sozialer und fördert die Sozialkompetenz. Trotz des schwierigen Settings ist unsere Idee aufgegangen. Unsere gastronomischen Projekte liefen schneller und besser als die nicht inklusiven der Konkurrenz. Vielleicht, weil es die Kund*innen am Anfang interessanter fanden, langfristig jedoch wegen der guten Qualität blieben. Wir hatten während der Pandemie Schwierigkeiten wie alle anderen Gastronomen auch. Die Arbeitsplätze konnten wir jedoch dank unseres breiten Publikums und unseres vielfältigen Teams besser erhalten als andere Restaurants. Letztlich ist ein inklusiver Betrieb sehr ähnlich wie ein herkömmlicher Betrieb. Wir müssen gute Arbeit leisten und diesen Gedanken übertragen wir auf das ganze Team.
Während des Lockdowns haben wir aus der Fabrique28 eine betriebsinterne Kantine gemacht und regelmässige öffentliche Märkte organisiert, weil dies die einzigen erlaubten Möglichkeiten waren, unsere Mitarbeitenden weiterhin zu beschäftigen. Während dieser Zeit wurde die Fabrique28 durch Menschen mit und ohne Beeinträchtigung geleitet. Um Restaurantstimmung zu schaffen, kamen die Bürokolleg*innen von Blindspot zum Mittagessen zu uns und haben auch Trinkgeld gegeben, so wurde der Betrieb möglichst «normal» nachgestellt. Der Markt hat für grosses Aufsehen bei der Bevölkerung bis hin zur Polizei gesorgt, obwohl wir alle Vorgaben für die Schutzmassnahmen einhielten. Das grosse mediale Echo wollten wir nutzen und zum Nachdenken darüber anregen, was die Pandemie für Menschen mit Beeinträchtigungen bedeutet, die nicht im ersten Arbeitsmarkt arbeiten, vielleicht keinen Freundeskreis und keine Affinität zu neuen Technologien wie Zoom haben. Der Lockdown betraf auch Heime für Menschen mit Beeinträchtigungen. Diese Menschen mussten sich entscheiden, ob sie im Heim bleiben oder zu ihren Eltern gehen wollten. Während drei Monaten gab es keine Besuche und keinen Austausch mehr. Das war eine Ausgangssperre à la Italia. Der Punkt ist jedoch der, dass die Schweiz dies nur im institutionellen Rahmen gemacht hat. Das bedeutet doch, das Menschen mit Beeinträchtigungen nicht systemrelevant sind. Das finde ich bedenklich, und dem wollten wir entgegensteuern.
Mehr zu Jonas Staub und zum Inklusionsprojekt Blindspot erfahren Sie im Magazin KONTEXT #07.
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Magazin KONTEXT
Dieser Artikel ist im KONTEXT #07, das Magazin rund um Themen der psychischen Gesundheit, erschienen. Möchten Sie das Magazin gratis erhalten? Werden Sie Mitglied im mental help club!